Voraussetzungen der alternierenden Obhut – aktuellste bundesgerichtliche Rechtsprechung
1. Vorbemerkungen
Seit Inkrafttreten des neuen Kindesunterhaltsrechtes muss das Gericht bei einem Trennungs- oder Scheidungsfall im Sinne des Kindeswohls die Möglichkeit einer alternierenden Obhut prüfen, sofern ein Elternteil oder das Kind dies verlangt (Art. 298 Abs. 2ter ZGB; Art. 298b 3ter ZGB). Damit hat der Gesetzgeber die alternierende Obhut zwar nicht als Regelfall statuiert, immerhin aber deutlich gemacht, dass die gleichmässige Betreuung der Kinder auch nach einer Trennung der Eltern gefördert werden soll. Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass es grundsätzlich im Interesse des Kindes ist, von beiden Elternteilen gleichmässig betreut und aufgezogen zu werden. Im Zentrum der zu prüfenden Voraussetzungen für die Anordnung der alternierenden Obhut steht das Kindeswohl.
2. Gemeinsame elterliche Sorge
Bereits mit der Einführung der gemeinsamen elterlichen Sorge als Regelfall per 1. Juli 2014 wurde die Elternschaft im Sinne einer gemeinsamen Erziehung der Kinder gestärkt. Die gemeinsame elterliche Sorge bedeutet zwar nicht, dass bei einer Trennung der Eltern automatisch nur noch die gemeinsame elterliche Sorge verfügt wird. Auch diesbezüglich hat das Gericht oder die zuständige KESB zu prüfen, ob sie dem Kindeswohl entspricht. Von der gemeinsamen elterlichen Sorge kann aber im Einzelfall nur in absoluten Ausnahmefällen abgewichen werden. Dies insbesondere, wenn ein schwerwiegender elterlicher Dauerkonflikt oder anhaltende Kommunikationsunfähigkeit herrscht, wobei sich der Konflikt oder die Kommunikationsunfähigkeit zwischen den Eltern aber auf die Kinderbelange als Ganzes beziehen muss. Kommunikationsunfähigkeit in Bezug auf einzelne Fragen genügt nicht und schon gar nicht, wenn sich der Konflikt nur um die Regelung des gemeinsamen Sorgerechtes dreht. Besteht ein solcher Dauerkonflikt, ist weiter erforderlich, dass sich dieser negativ auf das Kindeswohl auswirkt. Hierfür ist eine konkrete Feststellung von Nöten, in welcher Hinsicht das Kindeswohl konkret beeinträchtigt ist. Schliesslich muss eine ausnahmsweise Alleinzuteilung der elterlichen Sorge an einen Elternteil geeignet sein, die festgestellte Beeinträchtigung des Kindeswohls zu beseitigen oder zumindest zu lindern.[1] Nicht zu verwechseln sind die Kriterien der Alleinzuteilung des Sorgerechtes mit den Voraussetzungen für dessen Entzug im Sinne einer Kindsschutzmassnahme.[2] In BGE 5A_186/2016 E. 4 vom 2. Mai 2016 fasst das Bundesgericht die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Alleinzuteilung der elterlichen Sorge an einen Elternteil zusammen. Die Schwelle für eine Alleinzuteilung wird dabei extrem hoch angesetzt. Das Bundesgericht stärkt damit den gesetzgeberischen Willen, die elterliche Sorge den Eltern gemeinsam zuzuteilen. Damit stärkt es die (gemeinsame) Elternschaft. Der Gesetzgeber und auch das Bundesgericht gehen folglich davon aus, dass die gemeinsame elterliche Sorge sich grundsätzlich positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirkt. Dies auch in Fällen, wo zwischen den Eltern ein gewisser Konflikt besteht. Aus Sicht des Kindeswohls geht das Bundesgericht angesichts der hoch angesetzten Schwelle für die Alleinzuteilung des Sorgerechtes davon aus, dass gemeinsame Entscheide beider Elternteile und damit der Einfluss sowohl von Vater als auch von der Mutter für das Kind in der Regel am geeignetsten sind. Letztlich ist die gemeinsame elterliche Sorge auch Grundvoraussetzung dafür, über die Obhut zu entscheiden. Mitunter stellt sich die Frage einer Zuteilung der alleinigen oder alternierenden Obhut erst, wenn beide Elternteile Inhaber der elterlichen Sorge sind. Nur dann können sie auch Inhaber der Obhut sein. Die Frage der Regelung der Obhut über ein Kind hängt also unmittelbar von der elterlichen Sorge ab. Da die gemeinsame elterliche Sorge als nicht leichthin abänderbarer Grundsatz heute zum Standard geworden ist, gewinnt auch die Möglichkeit einer alternierenden Obhut zunehmendes an Bedeutung.
3. Die Obhut
a) Grundsatz / Definition
b) Leitlinie Kindeswohl
Nach Art. 11 Abs. 1 BV haben Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Mit Art. 11 BV geniesst das Kindeswohl Verfassungsrang und gilt in der Schweiz als oberste Maxime des Kindesrechtes in einem umfassenden Sinn. Es ist jedoch ein offener Begriff, der im Einzelfall konkretisiert werden muss. Art. 11 BV richtet sich dabei explizit auch an die rechtsanwendenden Behörden und verpflichtet sie, bei der Interpretation und Anwendung von Rechtssätzen den besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass das Gericht oder die Kindesschutzbehörde bei jeder Entscheidung über die Zuteilung der Obhut sich am Wohl des Kindes als oberste Maxime zu orientieren haben. Im Zentrum hat gedanklich und bei den Sachverhaltsabklärungen immer das Wohlbefinden des Kindes zu stehen. Die Interessen der Eltern sind zweitrangig. Dem Wunsch des Kindes ist Beachtung zu schenken.
c) Begriffsbestimmung
d) Alternierende Obhut
Das Bundesgericht hat bereits mit einem Urteil vom 29. September 2016 festgehalten, dass die alternierende Obhut bei gegebenen Voraussetzungen auch gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden kann. Mit BGer 5A_888/2016 vom 20. April 2018 wurde diese Rechtsprechung bestätigt. Damit macht das Bundesgericht deutlich, dass der Anordnung einer alternierenden Obhut grosse Bedeutung zukommt. Mithin manifestiert dieser Entscheid, dass die vom Gesetzgeber gewollte Stärkung der Elternschaft in der Praxis wenn immer möglich umzusetzen ist. Auch wenn dieser Sinneswandel in der Praxis noch nicht überall angekommen ist, dürfte es unter geltendem Recht Pflicht der Gerichte oder der involvierten Kindesschutzbehörde sein, in jedem Fall eine alternierende Obhut einlässlich zu prüfen, sobald ein Elternteil oder das Kind dies verlangt. Es genügt nicht mehr nur die Tatsache, dass während des Zusammenlebens eine Rollenteilung gelebt wurde, bei welcher das Kind vorwiegend von einem Elternteil betreut wurde, während der andere einer Erwerbstätigkeit nachging und daher im Sinne der Kontinuität und Stabilität für das Kind eine alleinige Obhutszuteilung erfolgt, wie dies früher üblich war. Selbst wenn ein Elternteil in der Vergangenheit zu hundert Prozent erwerbstätig war, sich aber in Zukunft durch Reduktion seines Arbeitspensums an der Kinderbetreuung beteiligen möchte, ist dies zulässig und zu berücksichtigen. Der Grundsatz, wonach beide Eltern gleichermassen Anspruch darauf haben, sich an der Betreuung des Kindes zu beteiligen, erlaubt es, bei einer Trennung der Eltern die Zeiger gewissermassen auf «Null» zu stellen. Das Bundesgericht machte mit diesem jüngeren Entscheid deutlich, dass dem Kriterium der bislang gelebten Rollenteilung im Falle einer Trennung der Eltern betreffend die Regelung der Obhut keine grosse Bedeutung mehr beigemessen wird. Vielmehr geht das Bundesgericht sogar davon aus, dass einer vorher zu 100% betreuenden Mutter zugemutet werden könne, während ihren betreuungsfreien Tagen einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, was angesichts der engen finanziellen Verhältnisse der Familie ökonomisch vorteilhaft sei.
Es ist zwar zu begrüssen, dass das Bundesgericht das gleiche Recht der Eltern stärkt, sich an der Betreuung der Kinder zu beteiligen. Ob es aber ökonomisch vorteilhafter ist, wenn der vorher zu 100% erwerbstätige Elternteil sein Pensum reduziert und an seiner Stelle der vorher zu 100% betreuende Elternteil diesen Teil durch Arbeitserwerb kompensiert, erscheint zweifelhaft und dürfte in der Praxis in den meisten Fällen wohl nicht zutreffen. So wird ein Wiedereinstieg ins Berufsleben eines zuvor 100% betreuenden Elternteils wohl in den meisten Fällen schlechter entlöhnt als das (reduzierte) Pensum des zuvor 100% erwerbstätigen Elternteils. Insofern ist meines Erachtens unter dem Aspekt des gleichen Rechtes beider Elternteile an der Betreuung auch zu prüfen, ob durch die Reduktion des Pensums durch den vorher 100% erwerbstätigen Elternteils allenfalls ein Manko resultiert, welches durch die Erhöhung des Pensums des anderen Elternteils nicht aufgefangen werden kann. In solchen Fällen wäre allenfalls dem Kontinuitätsgedanken für eine gewisse Zeit doch noch gewisse Beachtung zu schenken, denn ein Manko kann auch nicht im Interesse des Kindes sein.
Weiter widerspricht es dem Kindeswohl nicht, wenn ein Elternteil zur Abdeckung seiner Betreuungsanteile die Hilfe seiner Eltern in Anspruch nimmt, zumal die Betreuung in der Wohnung des Elternteils stattfindet. Es ist zwar richtig, dass die Betreuung durch die Grosseltern wohl in den wenigsten Fällen dem Kindeswohl zuwiderlaufen dürfte. Es muss meines Erachtens aber präzisierend festgehalten werden, dass die Abdeckung der Betreuungsanteile durch die Grosseltern grundsätzlich nicht dem Grundgedanken der alternierenden Obhut entspricht. Die alternierende Obhut bedingt, dass ein (sorgeberechtigter) Elternteil mit seinem Kind in häuslicher Gemeinschaft wohnt. Die Idee einer alternierenden Obhut ist, dass sich die Eltern persönlich um die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder kümmern. Es darf nicht sein, dass die alternierende Obhut beantragt und eingerichtet wird, damit ein Elternteil sein Kind hernach vollumfänglich durch Dritte betreuen lässt, währenddem der andere Elternteil eine persönliche Betreuung hätte anbieten können. Anders als beim neuen (Betreuungs-)Unterhaltsrecht, bei welchem Eigen- und Fremdbetreuung als gleichwertig betrachtet werden , hat bei der Regelung der Obhut das Kriterium der persönlichen Betreuung des Kindes nach wie vor Vorrang vor einer Fremdbetreuung.
Die praktische Umsetzung der alternierenden Obhut setzt voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in den Kinderbelangen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Zu berücksichtigen ist weiter die geografische Situation, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der beiden Eltern, und die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung für das Kind gegebenenfalls mit sich bringt. Haben die Eltern ihr Kind aber bereits vor der Trennung gemeinsam betreut, fällt die alternierende Obhut eher in Betracht. Weitere Gesichtspunkte sind wie bereits erwähnt die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen, das Alter des Kindes, seine Beziehungen zu (Halb- oder Stief-)Geschwistern und seine Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld. Auch dem Wunsch des Kindes ist Beachtung zu schenken, selbst wenn es bezüglich der Frage der Betreuungsregelung (noch) nicht urteilsfähig ist.
In prozessualer Hinsicht trifft das Gericht unter dem Regime des uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes (Art. 296 ZPO) die Pflicht, im Hinblick auf die Praktikabilität der alternierenden Obhut umfassende Abklärungen zu tätigen. Das Bundesgericht weist diesbezüglich insbesondere auf den Beizug von Sachverständigen hin, um die Aussagen des Kindes zu interpretieren. Denkbar sind aber alle möglichen Arten von Sachverhaltsabklärung. Alleine die Befragung der Kinder dürfte in den meisten Fällen wohl nicht genügen, zumal vor allem in konfliktgeladenen Trennungsfällen eine gewisse Beeinflussung der Kinder durch den vorher zu 100% betreuenden Elternteil – wenn auch unterbewusst – stattfinden dürfte.
Entscheidend ist auch die Wohnsitznahme der Eltern. Zieht ein Elternteil mit den Kindern zu weit weg, verunmöglicht er damit in vielen Fällen die Anordnung einer alternierenden Obhut. Der (mit den Kindern) wegziehende Elternteil präjudiziert damit die Zuteilung der alleinigen Obhut an sich selbst, da die geografische Distanz die alternierende Obhut nicht mehr zulässt. Zwar besteht für die Eltern als erwachsene Personen freie Wohnsitzwahl, bei der Regelung von Kinderbelangen sind jedoch die Interessen der Eltern zweitrangig. Folglich stellt sich hier die Frage, ob ein Gericht oder die Kindesschutzbehörde einem Elternteil unter Beachtung des Kindeswohls gar vorschreiben könnte, die geografische Distanz bei einem Wegzug mit den Kindern nicht zu stark zu vergrössern. Da in den meisten Fällen die Wohnsitzverlegung aber bereits stattgefunden hat, wäre – vorausgesetzt alle anderen Kriterien sind erfüllt – in solchen Fällen auch zu prüfen, ob eine Alleinzuteilung der Obhut an den im Ort verbleibenden Elternteil in Frage käme. Kontinuität und Stabilität beziehen sich hinsichtlich des Kindeswohls nicht nur auf den hauptbetreuenden Elternteil, sondern auch auf ein erweitertes Umfeld (Ort, Schule, Freunde, Verwandte usw.). In solchen Fällen erscheint es auch richtig, dass das Bundesgericht den entscheidenden Instanzen die Freiheit lässt, unabhängig vom bisher gelebten Rollenmodell bei einer Trennung der Eltern eine vollkommen neue Beurteilung vorzunehmen, die ohne weiteres auch darin enden könnte, dass der zuvor 100% erwerbstätige Elternteil hernach zu 100% betreuender Elternteil wird und umgekehrt. Es kann dem Kindeswohl ja durchaus zuwiderlaufen, wenn ein wegziehender Elternteil mit der Schaffung grösstmöglicher geografischer Distanz die Praktikabilität der alternierenden Obhut verunmöglicht und damit den Kontakt zum anderen Elternteil gewissermassen kappt.
Ist die Erziehungsfähigkeit beider Eltern gegeben und steht ein Antrag auf alternierende Obhut eines Elternteils oder des Kindes im Raum, so ist dieser in jedem Einzelfall ernsthaft abzuklären. Auszugehen ist dabei davon, dass die alternierende Obhut grundsätzlich als positiv im Sinne des Kindeswohls betrachtet wird. Erst wenn das Gericht oder die Kindesschutzbehörde nach einer umfassenden Sachverhaltsabklärung zum Schluss gelangt, dass die alternierende Obhut definitiv nicht praktikabel ist, darf eine alleinige Obhutszuteilung erfolgen.
Es ist – nach den jüngsten Gesetzesrevisionen – zu erwarten, dass die alternierende Obhut immer mehr an Bedeutung gewinnen dürfte. Dabei ist grundsätzlich auch zu begrüssen, dass das Bundesgericht die alternierende Obhut im Grundsatz stärkt.
- BGE 5A_467/2017 E. 2.2 vom 13. März 2018 mit weiteren Verweisen
- BGE 141 III 472 E. 4
- Ingeborg Schwenzer/Michelle Cottier in: Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 6. Auflage 2018, Art. 296 N 6 mit weiteren Hinweisen und Verweisen
- 4. BBl 2014 565
- BGE 142 III 612 E. 4.2
- BGer 5A_527/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 4 bestätigt in BGer 5A_406/2018 vom 26. Juli 2017
- BGE 141 III 328 E. 5.4; BGE 131 III 209 E. 5
- Ingeborg Schwenzer/Michelle Cottier in: BSK ZGB I, Art. 300 N 2 mit weiteren Verweisen, insbesondere auf Philipp Meier/Martin Stettler, Dorit de la filiation, 5. Aufl., Zürich 2014, welche im Gegensatz zu den übrigen Autoren die Ansicht vertreten, dass den Pflegeeltern keine Obhut zukommt.
- BGer8C_25/2018 vom 19. Juni 2018 E. 4.1 mit weiteren Hinweisen und Verweisen
- BGE 136 I 178 E. 5.3, BGer 5A_781/2015 vom 14. März 2016
- Andrea Büchler, FamKomm Scheidung, 3. Auflage 2017, Art. 273 N 4
- Andrea Büchler, FamKomm Scheidung, 3. Auflage 2017, Art. 273 N 4 mit weiteren Verweisen
- BGE 142 III 617 E. 3.2.3
- BGer 5A_888/2016 vom 14. März 2016
- BGer 5A_888/2016 vom 20. April 2018, E. 3.3.2
- BGer 5A_888/2016 vom 20. April 2018, E. 3.3.5
- BGer 5A_888/2016 vom 20. April 2018, E. 3.3.3
- BBl 2013 552 und 575
- BGer 5A_888/2016 vom 20. April 2018, E. 3.2.1
- BGer 5A_888/2016 vom 20. April 2018, E. 3.2.1